Was genau ist der Klima Bürger*innenrat und was sind seine Ziele?
Unsere Initiative möchte per Einwohner*innenantrag nach § 20b der baden-württembergischen Gemeindeordnung erreichen, dass der Gemeinderat von Stuttgart einen losbasierten Bürger*innenrat nach dem Modell von Mehr Demokratie beschließt. Dieses Gremium soll Lösungsvorschläge für den konkreten Umgang der Stadt mit der Klimakrise erarbeiten. Die Maßnahmen sollen lokal umsetzbar und mehrheitsfähig sein.
Ein Bürger*innenrat besteht i.d.R. aus einer Zufallsauswahl der betreffenden Zielgruppe (in unserem Fall die Einwohner*innen Stuttgarts). Dazu werden aus dem Einwohnermelderegister potentielle Teilnehmer*innen gelost und zur Teilnahme am Bürger*innenrat eingeladen. Aus dem Rücklauf wird – meist in einer zweiten Auswahlrunde – das Gremium zusammengestellt, so dass sich ein möglichst getreues Abbild der Stadtgesellschaft in ihrer Diversität ergibt (nach Alter, Geschlecht, Bildung, Migrationshintergrund und evtl. weiteren Kriterien).
Der Bürger*innenrat ist normalerweise zeitlich begrenzt. Das kann von ein/zwei Wochenenden bis zu mehreren Monaten dauern. Er arbeitet an einer bestimmten Fragestellung und wird professionell moderiert und strukturiert. Unterschiedliche Meinungen (z.B. Klimaschützer*innen und Klimaleugner*innen) bekommen die Gelegenheit zur Darstellung ihrer Sichtweise, aber auch wissenschaftliche Expertise und Faktenchecks werden eingebracht. Abschließend werden Lösungsvorschläge erarbeitet, anhand der unterschiedlichen Argumente ausdiskutiert und schließlich abgestimmt. Diese Lösungsvorschläge wiederum werden dann in den Gemeinderat eingebracht, wo sie diskutiert und abgestimmt werden oder aber als Bürgerentscheid den Bürger*innen selbst zur Abstimmung gestellt werden.
Der von uns angestrebte Bürger*innenrat soll sich damit befassen, wie Stuttgart seinen Beitrag zur Einhaltung der Pariser Klimaziele leisten kann und welche konkreten Maßnahmen und Reduktionsziele von Treibhausgasen dazu nötig sind.
Wer genau steckt hinter der Initiative und was hat euch dazu bewegt, den Antrag zum Klima-Bürger*innenrat zu stellen?
In der Initiative haben sich Einzelpersonen und Vertreter*innen aus Umweltgruppen zusammengefunden, die den Einwohner*innenantrag, die Unterschriftensammlung und die anschließende Realisierung des Bürger*innenrats mitgestalten wollen. Mit dabei sind Menschen vom Klima- und Umweltbündnis Stuttgart, den Stadtlücken, Scientists, Campus und Fridays for Future, Extinction Rebellion und Foodsharing und viele mehr, aber auch interessierte Stuttgarter*innen ohne Gruppen. Angeregt dazu wurden wir von der Initiative des Bündnisses Klimanotstand aus dem Jahr 2019 und von Berichten über Bürger*innenräte in anderen Städten und Ländern, die großteils sehr erfolgreich Lösungen für schwierige Fragen erarbeitet haben wie z.B. für Abtreibung und Homoehe in Irland. Inzwischen wurden wir bei unserem Anliegen auch von den Scientists for Future und dem Verein Mehr Demokratie e.V. beraten, die zu unseren Themen Klimaschutz und Bürger*innenräten eine große Expertise haben.
Ist es empfehlenswert, die Mitglieder auszulosen?
Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die dafür sprechen, Beteiligungsprozesse mit ausgelosten Bürger*innen zu besetzen:
Durch das Los wird mit einer größeren Wahrscheinlichkeit eine Auswahl getroffen, die repräsentativ für die gesamte Bevölkerung ist. Das bedeutet, dass nicht nur Menschen teilnehmen, die besonders gut informiert oder vernetzt sind, sondern dass es theoretisch jede*n treffen könnte. Das Losverfahren ist ein faires Verfahren und wird von vielen Menschen auch als gerecht akzeptiert.
Wenn man die Zufallsauswahl, wie beschrieben, nach Kriterien wie Bildungsstand, Alter und Geschlecht kontrolliert, kann man außerdem relativ gut sicherstellen, dass durch die Zufallsauswahl die verschiedensten Stimmen und Sichtweisen zu einem Thema eingefangen werden. Das ist in mehrfacher Hinsicht wichtig:
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Zweitens hilft es, alle Sichtweisen mit an Bord zu haben, weil die Maßnahmen, die am Ende in der Politik zur Entscheidung stehen, von der Bevölkerung auch akzeptiert werden müssen. In den Bürger*innenrat ist mit der Zufallsauswahl sozusagen ein Test für die Akzeptanz der Entscheidungen eingebaut. Bürger*innen bringen den Empfehlungen von transparenten und fairen Bürger*innenräten in der Regel großes Vertrauen entgegen. Das kann auch den Politiker*innen die nötige Zuversicht geben, vordergründig unpopuläre Schritte in der Klimapolitik zu wagen ohne Sorge, bei der nächsten Wahl dafür abgestraft zu werden. Diese zusätzliche Akzeptanz für Klimaschutzmaßnahmen auch unter Wähler*innen, die sich sonst nicht dafür aussprechen würden, ist streng genommen einer der wichtigsten Effekte eines Bürger*innenrats. In demokratischen Gesellschaften ist es von grundlegender Bedeutung, dass einschneidende Maßnahmen von der Bevölkerung angenommen werden, damit sie eine gute Wirkung entfalten.
Erstens ist es, wenn man für die Zukunft planen will, sehr wichtig, dass man alle relevanten Erkenntnisse und Sichtweisen bedenkt. Die Zufallsauswahl steigert die Qualität der Empfehlungen dadurch, dass Empfehlungen von sehr vielen Seiten aus kritisch betrachtet werden, bevor sie ausgesprochen werden. Hier ist außerdem hilfreich, dass die Teilnehmenden aus ganz unterschiedlichen Erfahrungsschätzen schöpfen und so auch auf unkonventionelle Ideen kommen können. Simulationen und Erfahrungen aus vergangenen Prozessen (vor allem von Hélène Landemore s.u.*) legen nah, dass in vielen Fällen Gruppen mit einer diversen Zusammensetzung tatsächlich bessere Empfehlungen erarbeiten können als solche, die aus einer homogenen Gruppe von Expert*innen bestehen.
Was ist, wenn sich jemand weigert?
Grundsätzlich kann ohne entsprechende gesetzliche Grundlage (wie beispielsweise bei Schöffen in Gerichten) niemand dazu verpflichtet werden, an einem Bürger*innenrat teilzunehmen. Man kann aber jede Menge Anreize dafür schaffen. Dazu gehören zum Beispiel eine Aufwandsentschädigung, die meist ca. 50 € pro Tag beträgt sowie die Übernahme von Verpflegungs- und Anreisekosten. Viele Menschen sind schon dadurch motiviert, dass sie das Glück haben, per Los für eine solch wichtige Aufgabe ausgewählt worden zu sein. Andere reagieren misstrauisch oder desinteressiert auf die Einladungsschreiben. Evtl. muss aus manchen Gruppen (z.B. Akademiker*innen), die erfahrungsgemäß stärker an solchen Beteiligungsformaten Interesse zeigen, nochmals ausgelost werden, damit sie nicht überrepräsentiert sind. Andere Milieus kann man bei zu geringem Rücklauf auch über weitere Aktivitäten zur Teilnahme motivieren. Die Organisator*innen tun das, indem sie die potentiellen Bürgerrät*innen beispielsweise zuhause besuchen, mit ihnen telefonieren, über mögliche Probleme reden und helfen, diese zu bewältigen. Dies können Angebote für Kinderbetreuung oder bei der Pflege von Angehörigen während der Zeit des Bürger*innenrats sein. Es werden jeweils ca. 10 Mal so viele Menschen ausgelost wie eigentlich teilnehmen können. So hat man noch Ersatzteilnehmer*innen, wenn jemand absagt.
Wieviel politischen Einfluss haben die Mitglieder dann und für welche Themen werden sie sich einsetzen? (Falls Sie sich einen großen Schritt in Richtung Klimaneutralität erhoffen: Haben Sie Bedenken, dass der ausgeloste Rat in eine andere Richtung geht?)
Die Mitglieder des Bürger*innenrats haben eine hohe Legitimation, wenn sie ihre Themen ausdiskutiert haben und sich auf Empfehlungen einigen, mit denen die meisten gut leben können. Wie groß der Einfluss dann ist, hängt vor allem von der öffentlichen Aufmerksamkeit und dem politischen Mandat ab, das dem Bürger*innenrat mitgegeben wird.
Wofür sich die Teilnehmenden einsetzen werden, lässt sich im Vorhinein nicht mit Sicherheit sagen. Erfahrungen mit Bürger*innenräten in der Vergangenheit haben gezeigt, dass häufig auch Personen ausgelost werden, die vorher eher unpolitisch waren und keine starken Meinungen mitbringen. Deren Ansichten bilden sich zu einem großen Teil erst im Laufe des Prozesses aus und können sich dort nachgewiesenermaßen auch ändern.
Der große Vorteil von Bürger*innenräten für den Klimaschutz ist, dass Fragen nach den Folgen unseres Handelns, nach Gerechtigkeit und Verantwortung, die in unserem Alltag leicht ignoriert werden können, im Bürger*innenrat auf jeden Fall mit viel Raum und Offenheit der Teilnehmenden diskutiert werden. Sobald diese Themen einmal auf dem Tisch sind, ist es aber kaum noch denkbar, dass sie in den Endergebnissen ignoriert werden, denn damit das geschieht, müsste eine große Mehrheit der Anwesenden bewusst und teilöffentlich sagen, dass solche ethischen Überlegungen keine Rolle für sie spielen. Wahrscheinlicher ist, dass Menschen, die sich im Alltag bisher gegen stärkere Klimaschutzmaßnahmen aussprechen, ihre Bedenken einbringen. Diese Bedenken können besprochen werden, und es können Lösungen gesucht werden, die für alle akzeptabel sind.
Was kann man tun, um den Antrag zu unterstützen, und wie kann man sich noch aktiv engagieren?
Für unseren Einwohner*innenantrag brauchen wir die Unterschriften von 2.500 Stuttgarter*innen. Gerade in Corona-Zeiten ist es aber gar nicht einfach, die beisammen zu bekommen, weil sich viele Menschen kaum noch treffen. Deswegen sind wir dankbar über jede weitere Person, die unsere Unterschriftenlisten von der Webseite buergerinnenratklimastuttgart.de ausdruckt und ihre Bekannten zum Unterschreiben anregt. Und natürlich freuen wir uns auch, wenn noch mehr Interessierte zu unserer Gruppe der Aktiven dazustoßen wollen. Wir treffen uns alle ein bis zwei Wochen zu einem Plenum (derzeit online), wo wir u.a. gemeinsame Aktionen planen, Pressearbeit organisieren oder Projekte wie die anstehenden Gespräche mit den Gemeinderatsfraktionen vorbereiten. Schreibt uns dazu einfach unter der Adresse auf der Webseite an.
Flyer zum Ausdrucken Unterschriftenliste
Eine Weitere Initiative, die Bundesweit reicht, ist der Bundes Klima-Bürger*innenrat. Sie brauchen dringend 50.000 Unterschriften. Schicke die Meldung auch gerne an Deine Freunde weiter, zusammen können wir für eine Bundesweite Klimagerechtigkeit sorgen.
Unterzeichne den online Antrag
Mehr Informationen:
Web: www.buergerinnenratklimastuttgart.de
Mail: info(at)buergerinnenratklimastuttgart.de
Instagram: @buergerinnenratklimastuttgart
Twitter: @klimarat_stgt
youtube: https://www.youtube.com/channel/UCYhoypcaVkL7ymcUgpNjryQ/featured
* Hélène Landemore ist eine Politikwissenschaftlerin von der Yale University. Sie argumentiert mit am stärksten für die Vorteile von Zufallsauswahlen, weil sie selbst sehr gute Erfahrungen in Experimenten gemacht hat. Am besten kommt das bei folgendem Artikel heraus:Landemore, Hélène 2013: Deliberation, cognitive diversity, and democratic inclusiveness: an epistemic argument for the random selection of representatives. In: Synthese, 190 (7): 1209–1231
http://link.springer.com/10.1007/s11229-012-0062-6